Tag 6 - Die Stadt

 

Eva wurde von einem fernen Glockengeläut geweckt und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, wo sie war, denn in ihrem Heimatdorf Kändelmar hatten sie noch nie Glocken geweckt. Sie schaute sich in dem dunklen Zimmer um, als plötzlich ein Lichtstrahl das Zimmer durchflutete, weil ihre Mutter die Vorhänge aufgerissen hatte. Sie kniff die Augen zusammen und sah, dass ihr Vater ebenfalls schon aufgestanden war und seine Ware kontrollierte. Ihr Bruder schmiss sich gerade aus dem Fenster und lief vor Aufregung im Kreis herum. Eva selber kam nicht so einfach aus den Federn, doch schließlich schwang auch sie sich aus dem Bett. Auch wenn sie nicht ganz so aufgeregt wie Johannes war, freute sie sich dennoch auf den heutigen Tag. Sie würde die Stadt und ihren Großvater wieder sehen. Die Stadt war zu dieser Jahreszeit immer besonders interessant, denn der jährliche Schmiedemarkt war so bekannt geworden, dass er inzwischen auch Zirkusse, freie Künstler, Jahrmarktsverkäufer und generell geselliges Volk anzog. Johannes und Eva zogen sich an und schauten sich dann im Haus um. Das Haus war jedoch ein gewöhnliches Haus aus Haus und grob geschlagenem Stein ohne irgendwelche geheimen Gänge oder Luken, weswegen ihnen schnell öde wurde und sie zu ihren Eltern in den Wirtsraum gingen. Ihre Eltern hatten schon für sie eine Portion Haferbrei mit Nüssen und Beeren bestellt. Johannes und Eva schlangen ihre Portion herunter und waren schon vor ihren Eltern fertig, obwohl sie erst viel später angefangen hatten. Als auch ihre Eltern mit dem Essen fertig waren, machten sich die Vier auf den Weg zu ihrem Zimmer und halfen ihrem Vater beim Beladen des Karrens, denn der war von ihrem Vater entpackt worden, damit niemand die Waren über Nacht klauen konnte. Sie schleppten also die Waren aus dem Zimmer herunter und beluden den Wagen. Diese Aufgabe bewältigt, ging ihre Mutter noch einmal ihre Wasserbeutel auffüllen und kam mit den beiden großen Lederbeuteln, die für das Wasser gedacht waren, wieder. Dann setzten sich Eva und Johannes auf den Karren und der letzte Weg nach Leasberg begann. Die Straße war schon zu dieser frühen Morgenstunde sehr voll, weswegen es gut war, dass sich die beiden Kinder auf den Karren gesetzt hatten, weil es sonst gut hätte passieren, dass sie ihre Eltern verloren hätten. Sie zogen den Berg hoch und nach einer guten halben Stunde kamen sie an den Burggraben. Die Zugbrücke war heruntergelassen und sie überquerten sie ohne Problem. Auch die Stadtwachen hielten sie nicht an und so waren sie schnell durch das Burgtor hindurch. Sofort bemerkte Eva den Unterschied der Luft. Die Luft war stickiger und es roch nach Herdfeuern und Rauch. Außerdem stieg ihr der Geruch von Pferdemist und Abfällen in die Nase und sie rümpfte ebendiese. Doch schon wenige Minuten hatte sie sich an den Geruch gewöhnt und auch ihre Augen hatten sich an den geringeren Lichteinfall gewöhnt, der daher rührte, dass die Häuser an der Hauptstraße recht hoch waren und so das morgendliche Licht noch nicht so gut einfallen konnte. Die Straße führte noch immer leicht den Berg hinauf, doch nach einer geringen Zeit ebnete sich die Straße und nach einer weiteren kurzen Zeitspanne kam die Familie auf einen großen Marktplatz. Es gab schon einige Stände, doch die meisten Plätze waren noch frei. Ihr Vater freute sich sehr darüber, denn so konnte sich ihr Vater einen guten Platz sichern, der zusätzlich noch neben einem befreundeten Schmied lag. Eva und Johannes halfen wieder ihrem Vater die Waren auszuladen und den Stand aufzubauen. Dann bekamen sie wieder jeder ein wenig Geld und durften sich auf dem Markt umschauen. „Pass aber gut auf deinen Bruder auf und seid zur Mittagszeit wieder da!“, rief ihnen ihre Mutter noch hinterher.

Eva wusste genau, wo sie als Erstes hinwollte. Direkt vor einem großen Patrizierhaus stand ein Stand mit Salzsteinen und Eva wusste, dass Johannes noch nie so etwas wie einen Salzstein gesehen hatte und deswegen hatte sie sich einen Trick überlegte. Sie ließ Johannes ein kleines Stück vorlaufen und kniete sich dann auf den Boden, um nach einer passenden Requisite zu schauen. Als sie sie gefunden hatte, holte sie auf und stand schließlich mit Johannes direkt neben dem Stand, der die Salzsteine verkaufte. Glücklicherweise war der Stand daneben ein Schmiedestand, wo es Schwerter und Messer gab, weswegen Johannes sofort abgelenkt war und so konnte ihr Trick viel besser gelingen. Sie stahl sich zu dem Salzsteinstand hinüber und schaute, ob gerade jemand auf sie achtete. Als sie sich sicher war, dass niemand sie anschaute, lieh sie sich einen Salzstein aus und kehrte zu ihrem Bruder zurück. Dieser war noch immer vollkommen begeistert von den Messern, aber drehte sich um, als seine Schwester seinen Namen rief: „Johannes, komm mal her. Ich kann zaubern.“ Gespannt und misstrauisch kam er auf sie zu. Eva zog ihre Requisite aus ihrer Tasche und hielt einen Stein in die Höhe. Johannes sagte: „Toller Trick. Ich habe genau gesehen, dass du den Stein aus der Tasche gezogen hast.“ Eva lachte und bedeutete ihm, bei ihr zu bleiben, weil das noch gar nicht der Trick gewesen war. „Das hier ist ein ganz gewöhnlicher Stein. Er sieht aus wie ein Stein fühlt sich an wie ein Stein und schmeckt auch wie ein normaler Stein.“ Zum Beweis gab sie ihrem Bruder den Stein und er testete alle diese Eigenschaften und leckte ihn dabei auch an. „Ich“, fuhr Eva fort, „besitze die Macht, diesen Stein in Farbe, Form und Geschmack zu verändern.“ Sie nahm den Stein zurück in die Hand und hatte vorher schon in ihrer rechten Hand den Salzstein versteckt. Dann warf sie den gewöhnlichen Stein hoch und gerade in die Luft, und als er herunterfiel, fing sie in elegant in ihrem rechten Ärmel auf. Dann präsentierte sie Johannes den Salzstein und dieser war ganz aus dem Häuschen. Er nahm den Stein, leckte daran und stieß dann einen überraschten Schrei aus, als der Stein tatsächlich salzig war. „Nochmal!“, verlangte er und Eva führte den Trick noch einmal vor. Wieder und wieder wollte Johannes den Trick sehen, doch irgendwann wurde es Eva leid und sie sagte, dass sie jetzt weitermüssten, denn sie wollten ja schließlich die anderen Sachen auch noch sehen. Sie schickte Johannes vor und brachte den Salzstein zurück. Unglücklicherweise achtete sie dieses Mal nicht so aufmerksam darauf, dass sie niemand beobachtete und einer der Verkäufer dachte, dass sie etwas stehlen wollte. „He!“, rief er und Eva,  die schnell bemerkte, dass sei erwischt worden war, spurtete schnell los. Sie holte ihren Bruder schnell ein und nahm ihn bei der Hand. Schnell flitzten sie durch die Menschen, die gerade ihre Stände aufbauten und weil sie so klein und wendig waren, entkamen sie ihrem Verfolger recht schnell. Ihr Bruder fragte sie verwirrt, was denn gewesen sei, doch sie winkte ab und meinte, dass das alles nur ein Missverständnis gewesen sei.

Sie schauten sich um, wo sie gelandet waren und erblickten, dass vor ihnen eine gruppe von Männern stand, die lustig gekleidet waren. Einer von ihnen jonglierte gerade mit fünf Bällen und ein anderer machte gerade Handstand. Einer schnitt Grimassen und die zwei, die neben ihm standen, fütterten gerade einen Bären, der traurig aus einem Käfig herausschaute. Zwei Frauen zogen sich Kostüme an und eine dritte übte gerade mit ihrem Mann eine abenteuerlich aussehende Choreografie. Sie hatten den Zirkus gefunden. Bewundernd schauten sie die vielen unterschiedlichen Menschen an und waren erstaunt über die Elastizität zweier Frauen, die sich als Schlangentänzerinnen bezeichneten, über die Anmut, mit der die beiden Tänzer tanzten und über den kraftvollen Ausdruck, den die beiden Männer hatten, die Salti schlugen und Handstandüberschläge aneinanderreihten. Sie setzten sich hin und beobachteten das Spiel des Zirkusses und entdeckten, dass neben dem Bären auch noch Hunde und sogar einige blau schimmernde Kanarienvögel in Käfige gesperrt waren. Am liebsten hätte sie die Tiere frei gelassen, denn sie sahen so traurig aus, wie sie in ihren Käfigen saßen, getrennt von der Natur, in der sie normalerweise lebten. Nach einer Weile zog Johannes Eva am Ärmelzipfel und meinte, dass er langsam Hunger bekäme. Eva hätte den Zirkusmenschen zwar gerne noch etwas länger zugeschaut, doch sie wusste, wie quengelig Johannes werden würde, wenn er nicht bald Essen bekommen würde. Sie zogen also weiter und erblickten, dass um sie herum nur noch Schmiedestände auftauchten. Sie entschieden sich, ein wenig ins Stadtinnere zu gehen, weg von dem großen offenen Marktplatz. Sie tauchten in die Gassen Leasberg ein und es wurde um sie schlagartig dunkler. Hier reichten nämlich noch weniger Sonnenstrahlen auf den Boden als zu dem Zeitpunkt, als sie auf der Hauptstraße der Stadt gewesen waren. Sie ließen verschiedene Häuser hinter sich, die so aussahen, als würden dort bloß Menschen wohnen. Als sie an eine Ecke kamen, kam ihnen ein gewaltiger Gestank entgegen, und als Johannes davon husten musste, meinte ein älterer Mann mit einem langen weißen Bart, dass die beiden wohl noch nie in einer Gerbergasse gewesen sein können. Sie gingen weiter und Eva erzählte Johannes einiges, was sie noch von ihrem letzten Besuch kannte: „Papa hat erzählt, dass es in Städten immer bestimmte Gassen oder Straßen für bestimmte Berufe gibt. Die Gerber und die Fleischer sind meistens in einer Gasse am Rand der Stadt, weil ihre Berufe viel Gestank produzieren, aber das scheinen die hier nicht besonders gut berücksichtigt zu haben.“ Sie gingen schnell weiter und ließen den Gestank hinter sich. Sie kamen in eine Gasse, die etwas mehr Licht hatte und wesentlich besser roch. Sie hatten die Bäckergasse gefunden. Sie kauften sich beide paar Arme Ritter, eine Speise, die sie schon liebten, wenn ihre Mutter sie machten, und von einem richtigen Bäcker schmeckten sie noch einmal besser. Sie kehrten dann zum Markt zurück, fanden schnell den Stand ihres Vaters wieder und ihre Eltern lobten sie, dass sie so rechtzeitig waren.

Den Rest des Nachmittages fanden Eva und Johannes nicht sonderlich spannend, denn sie halfen ihrem Vater dabei, seine Verkäufe einzupacken und den Stand ordentlich zu halten. Die Stunden krochen nur so dahin und so war Eva sehr froh, als der Abend endlich kam und sie die Verkaufssachen wegräumten und zu ihrem Großvater gingen. Ihr Vater würde bei dem Stand schlafen, denn es lohnte sich nicht, ihn jeden Tag aufzubauen und wieder abzubauen, denn so konnte es passieren, dass er am nächsten Tag einen schlechteren Platz bekäme. Als sie beim Haus ihres Großvaters ankamen, öffnete der ihnen die Tür und Eva fiel ihm um den Hals. Ihr Großvater war einer der nettesten und großzügigsten Menschen, die sie kannte, obwohl er nicht wirklich wohlhabend war. Und wieder wurde sie nicht enttäuscht. Ihr Großvater hatte für ihren Bruder und sie einige Bonbons gekauft und bot sie ihnen nun an. Erfreut nahmen sie die Geschenke an und bedankten sich artig. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und bald gesellten sich Evas Onkels und ihre Frauen auch zu ihnen. Sie erzählten von ihrer Reise und was das letzte Jahr über passiert war. Ihr Onkel Jeremiah und seine Frau Eva, nach der Eva benannt war und die zusammen mit ihrem Onkel die Pateneltern von ihr waren, kamen kaum darüber hinweg, wie groß ihr Patenkind geworden war. Der Abend ging gemütlich zu Ende und sie legten sich bald alle schlafen. Natürlich konnten sie in dem kleinen Haus nicht alle ein eigenes Zimmer bekommen und so schliefen Eva und Johannes mit ihrer Mutter im Zimmer ihrer Pateneltern.

 

Tag 6 - Armer Ritter

Armer Ritter ist eine Speise, die vor allem aus Dingen hergestellt wird, die man einfach so im Haushalt hat. Es wir deswegen Armer Ritter genannt, weil Geschichten besagten, dass Armer Ritter sich kein Fleisch leisten konnten und deswegen versuchten aus altem Brot das beste zu zaubern. Meiner Meinung nach ist ihnen das auch wirklich gut gelungen. (Bildrechte: chefkoch.de)