Tag 4 -Die Karawane

 

Auch heute war es Eva und Johannes nicht vergönnt gewesen, auszuschlafen. Diesmal immerhin nach dem Sonnenaufgang geweckt, rieben sich Eva und ihr Bruder die Augen und wünschten sich wieder in ihrem Bett zu liegen. Zum Frühstück gab es nur einen Apfel und ein Stück Brot, denn sie hatten keine Zeit, sich ein warmes Frühstück zuzubereiten. Heute würde im Dorf der Markt sein und wenn sie nicht vor allen anderen das Dorf passieren könnten, würden sie mit ihrem Karren Stunden brauchen, um über den gefüllten Markt zu kommen und es gab keine anderen befestigten Straßen in dieser Gegend, die in die Richtung führten, in die sie wollten. Es war ein schöner Morgen. Die Luft war klar und frisch und doch lag in den Windzügen schon das Versprechen, dass es am heutigen Tag warm werden würde. Sie begegnete einigen Bauern und einem Handwerker, doch ansonsten war die Straße noch menschenleer und so durchquerten sie das Dorf ohne Probleme. Sie gingen eine Zeit lang in Richtung Süden und wandten sich dann in südwestliche Richtung. Mühelos kamen sie einige Stunden voran und inzwischen hatten sich Eva und Johannes auf den Karren gefläzt. Kurz vor Mittag rief ihr Vater: „Schaut mal. Da vorne bei der Kreuzung.“ Sie schauten zu dem Ort, zu dem ihr Vater zeigte und sie sahen, dass eine Karawane von etwa 25 Personen auf die Kreuzung zusteuerte, auf die auch sie zuwanderten. Nach wenigen Minuten hatten beide Gruppen die Kreuzung erreicht und beide wandten sich in dieselbe Richtung.

Die Frau, die bei der Karawane ganz vorne ging, kam auf Evas Familie zu und begrüßte die beiden Erwachsenen mit einem Handschlag: „Seid gegrüßt, mein Name ist Cassandra. Ich bin die Anführerin dieser kleinen Truppe hier.“, sie zeigte mit einer ausschweifenden Geste auf die Menschen hinter sich, „wir sind auf dem Weg nach Ginsterbusch. Wohin führt euch euer Weg?“ Eva mochte es, wie die Frau sprach. Ihr Vater stellte alle vor und sagte dann: „Wir sind auf dem Weg nach Leasberg.“, antwortete Evas Mutter. Die Frau schien kurz zu überlegen. „Dann werden wir die nächsten acht Meilen den gleichen Weg beschreiten.“ „Ihr scheint euch hier ja gut auszukennen, Cassandra. Wir freuen uns darauf, eine so ortskundige Begleiterin zu haben.“, antwortete ihr Vater. Die Karawane, der sich jetzt auch Evas Familie angeschlossen hatte, setzte sich in Bewegung und die Erwachsenen unterhielten sich untereinander. Eva lag auf dem Karren ihres Vaters und lauschte dem Gespräch ihrer Eltern. Sie unterhielten sich mit Cassandra und ihrem Mann, der zu ihnen gestoßen war: „Wie kommt es, dass du dich so gut hier auskennst? Bist du hier geboren?“ „Nein,“, antwortete Cassandra, „mein Mann und ich kommen von weit her. Ich bin ursprünglich in einem Land jenseits von König Bandels Königreich aufgewachsen. Meine Liebe trieb mich hier her.“, woraufhin sie einen Arm um die Hüfte ihres Mannes legte, „meine Liebe zu meinem Mann, Aramis, und meine Liebe zu Abenteuern und neuen Welten. Ich wuchs damals am Hofe eines einflussreichen Fürsten auf. Genauer gesagt war ich seine Tochter. Eines Tages lernte ich Aramis kennen und wir verliebten uns. Unsere Liebe war stark und doch durften wir sie nicht ausleben, denn Aramis Vater war ein Hofmusiker und eine Heirat wäre nicht standesgemäß gewesen. Wir träumten also davon, wie unser Leben aussehen könnte, wenn wir nicht in unseren Ständen gefesselt wären, und irgendwann wurden diese Träume zu Plänen. Aramis ist ein begnadeter Sänger und sein Vater brachte ihm das Laute spielen bei. Ich hatte schon immer die Künste und ferne Länder geliebt. Wir beschlossen also zu fliehen und neue Menschen zu werden. Ich wollte ein Leben ohne meine Titel und mit Aramis und Aramis zog es genauso in die Ferne wie mich. Er ist nun ein Minnesänger und ich bin eine Kartenmacherin. So können wir beide umherwandern und unsere Freiheit ausleben.“ Eva hatte gespannt zugehört und war von der Geschichte gerührt. So eine Geschichte hatte sie noch nie gehört und sie war sich sicher, dass niemand in ihrem Dorf so viel von der Welt gesehen hatte wie das Paar, dass sich gerade mit ihren Eltern unterhielt. Auch ihre Eltern waren beeindruckt: „Das war ein mutiger Schritt von euch beiden. Ihr habt wirklich interessante Geschichten hinter euch. Wie kommt es, dass ihr nun mit einer ganzen Karawane unterwegs seid?“ Daraufhin sagte Aramis: „Wir trafen diese Menschen alle auf unserer Reise. Sie sind genau wie wir auf der Suche nach einem neuen Leben und neuen Ländern.“ Er zeigte auf zwei Männer, die nebeneinander gingen und vertraulich miteinander sprachen. „Das sind Lennon und Leutwin. Sie kommen aus Miramar und sind genau wie wir wegen einer verbotenen Liebe geflohen. Der Fürst, der über das Gebiet herrscht, in dem Miramar liegt, hat einen Bann über gleichgeschlechtliche Liebe gelegt. Jeder, der solch eine Liebe lebte, wurde vertrieben oder sogar gefoltert und eingesperrt. Lennon und Leutwin wollten dem Fürsten nicht die Gelegenheit lassen. Als sie sich uns anschlossen, waren sie überglücklich, weil wir die ersten Menschen waren, die sie so akzeptierten, wie sie waren. Ich verstehe auch nicht, warum man es anders halten sollte.“ Er schüttelte den Kopf, als wäre er traurig, dass viele Menschen auf der Welt so unverständig sind, dann fuhr er fort: „Lennon ist außerdem ein äußerst begabter Sänger und ich habe ihn in meine Lieder eingeweiht. Der Mann, der da vorne geht, heißt Edzard und ist mein zweiter Gesangsschüler. Er kommt aus dem Land, aus dem auch Cassandra und ich kommen. Er ist einst Bauer gewesen, doch sein Lehnsherr wurde immer grausamer, bis Edzard eines Tages die Last nicht mehr aushalten konnte und floh. Er ist aber nicht nur ein talentierter Sänger, er hat auch den Verstand eines Künstlers. Er reist nun schon seit einem halben Jahr mit uns und er hat mit seinen Händen Dinge erschaffen und mit seinen Lippen so schöne Melodien gefunden, die so schön sind, dass sie kaum zu glauben sind.“ Er zog aus seiner Tasche eine kleine Figur von einem Drachen, die aus Edelstein bestehen zu schien. Sie war aber so kunstvoll und elegant gefertigt, dass es fast so aussah, als würde sich der Drache gleich wirklich in die Luft erheben. Bewundernd und behutsam nahm Eva die Figur entgegen, als Aramis sie ihr entgegenstreckte. Während Johannes und Eva die Figur vom nahen betrachten, erzählten Cassandra und Aramis weiter die Geschichten ihrer Begleiter, aber Eva wurde müde. Ihr steckte der gestrige Tag noch immer in den Knochen und sie legte sich hin.

Als Eva wieder aufwachte, war es noch heller Tag. Sie war davon aufgewacht, dass jemand das Zelt, neben dem sie gelegen hatte, vom Karren gehoben hatte. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie Menschen geschäftig herumwuselten und ein Lager aufschlugen. Ihr Bruder weihte sie ein: „Wir machen jetzt schon halt, weil ein Wagenrad von Aramis Wagen gebrochen ist. Mama und Papa fanden Cassa und Aramis so toll, dass sie beschlossen haben, mit ihnen ihr Lager zu machen. Cassa hat gesagt, dass wir es heute sowieso nicht bis zum Dorf vor Leasberg geschafft hätte.“ Dann lief er davon und fing ein Gespräch mit Cassandra an, die er anscheinend inzwischen Cassa nannte. Sie zeigte zu einer Stelle zwischen den Zelten und Johannes lief auf zwei Jungen zu, die in etwa sein Alter hatten. Eva stand auf und ging zu ihren Eltern, um ihnen beim Aufschlagen des Lagers zu helfen. Nachdem sie das erledigt hatten, verabschiedete sich ihr Vater und sagte, dass er mal helfen würde, das Wagenrad zu reparieren.

Eva wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Jetzt, wo sie keine Beschäftigung hatte und zum ersten Mal, seitdem sie aufgebrochen waren, keine Menschen um sie herum redeten, kamen ihre Gedanken zur Ruhe und sie dachte an das Ziel, das sie vor sich hatten. Sie war schon lange nicht mehr in Leasberg gewesen und doch erinnerte sie sich an viele Dinge von diesem Ort. Leasberg lag, wie es der Name schon vermuten ließ, auf einer Anhöhe und unter sich hatte es einige kleine Dörfer und Bauernhöfe, von denen die Menschen hinter den Mauern ihr essen bekamen. Die großen Mauern waren nicht umsonst um Leasberg errichtet worden. Sie hatte von ihrem Großvater die Geschichten über den Krieg, der rund um Leasberg gewütet hatte, gehört und obwohl ihr Vater meinte, dass die Geschichten übertrieben waren, glaubte sie ihrem Großvater, dass der Krieg sehr schwer für die Menschen dort gewesen sein musste. Sie erinnerte sich auch an die Geschichten, die ihr Großvater ihr von seiner Ankunft erzählt hatte. „Stadtluft macht frei“, hatte er immer wieder gesagt. Wie auch der zweite Gesangsschüler Edzard, war ihr Großvater damals vor seinem Lehnsherrn geflohen und hatte sich an die Geschichten aus der alten Zeit erinnert. Auch wenn jeder wusste, dass die Regel, dass man nach einem Jahr und einem Tag in der Stadt von seinem früheren Lehnsherrn frei war, schon lange nicht mehr galt, wurde ihr Großvater nie von seinem alten Herrn gefunden. In Gedanken ging sie die enge Gasse entlang, in der ihr Großvater zusammen mit seinen zwei anderen Söhnen lebte. Der Geruch der Gasse war anders als bei vielen anderen Gassen sauber, doch die Häuser standen dort noch gedrängter beisammen als im Rest der Stadt.

Auf einmal wurde Eva wieder in die Realität gezogen, als ihre Mutter sie rief. Sie brauchte jemanden, der für sie Feuerholz sammelte. Sie ging in den Wald, der sehr nah an der Straße gelegen war, auf der sie zu einem unfreiwilligen Halt gekommen war. Nach einer Stunde hatte sie so viel Holz gesammelt, dass ihre Mutter zufrieden war. Ihre Mutter und sie beschäftigten sich mit kleinen Aufgaben wie dem Flicken von Klamotten, bis der Abend gekommen war und sie sich gemeinsam mit den anderen Reisenden an ein Lagerfeuer setzten. Cassandra stellte Evas Familie denjenigen vor, die sie noch nicht kennengelernt hatten. Danach bedankte sie sich dafür, dass Evas Vater das Rad repariert hatte, denn auch wenn sie so viele verschiedene Menschen mit breit gefächerten Fähigkeiten waren, konnte doch keiner von ihnen so schnell ein Rad reparieren. Als Dank gab Cassandra ihnen eine Karte des Gebietes, die sie selber angefertigt hatte. Dann saßen sie ums Feuer herum, aßen und erzählten sich Geschichten, bis sich Aramis erhob und verkündete: „Meine lieben Freunde. Es ist nun die Zeit angekommen, zu der die Sterne und der Mond ihr Licht über uns ausbreiten. Das Feuer flackert und Geschichten werden erzählt. Die Schemen tanzen am Rand des Feuerscheins und die Menschheit ruht. Die wenigen Mutigen, die jetzt noch wachen, können den Frieden und die neblige Magie dieses Moments spüren. Von dieser nebligen Magie handelt auch das Lied, das Edzard, Lennon und ich euch gleich singen werden.“ Wie eine Person standen Edzard und Lennon auf und gingen gemessenen Schrittes zu ihrem Lehrer und stellten sich neben ihn ans Feuer. Ihre Gesichter leuchteten im Widerschein des Feuers und hoben sich von der schwarzen Kleidung ab, die die drei Sänger trugen. Als die Drei anfingen zu singen, wurde die Luft von einem mystischen Klang ergriffen, wie ihn Eva noch nie gehört hatte. Die Stimmen sangen eine tiefe Melodie, die in ihr die Sehnsucht erweckte, an Orte zu reisen, die sie noch nie gesehen hatte. Die Stimmen sangen und entwickelten sich weiter, sodass auch eine hohe Stimme dazu stieß und Eva in die Länder der Zwerge trug, wo noch kein Mensch einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte und die Berge bis in den Himmel reichten. (Hier empfehle ich sehr stark, dieses Video anzuschauen.) Das Feuer knisterte und die tiefen Klänge schwanden. Alle waren verstummt. Sie alle hingen dem Lied hinterher, dass sie gerade gehört hatten und dass für sie viel zu schnell verklungen war. Von den Bildern, die das Lied in ihr hervorgerufen hatte, begleitet, glitt sie in einen Schlaf, der von Träumen durchzogen war, in denen sie neue Länder durchstreifte und Abenteuer mit Königen der Fae und Zwerge erlebte.

Tag 4 - Die Karte

Die Kartenmacherin Cassandra stellt ihre eigenen Karten her. Das kannst du aber auch. Du brauchst dafür auch gar nicht so viele Dinge und du kannst ziemlich kreativ werden. In der Anleitung lernst du auch, wie man Papier alt aussehen lässt. Viel Spaß beim basteln.