Tag 3 - Der Bauernhof

 

Es kam Eva so vor, als wäre sie gerade erst eingeschlafen, da weckte sie ihr Vater auch schon wieder behutsam und sagte ihr, dass sie jetzt aufstehen müsse, da sie sich ja schließlich für die Gastfreundschaft bedanken wollten, indem sie wenigstens ein bisschen mithalfen. Eva war zwar nicht ganz klar, warum das mitten in der Nacht passieren sollte und warum ihr kleiner Bruder davon verschont blieb, aber dennoch hob sie sich aus dem Bett und zog sich an. Wenig später erschien sie unten im Zimmer, in dem sie gestern gegessen hatten, wo ihre Mutter gerade einer Magd half, Feuer im Kamin zu schüren. Der Bauer Friedemann und ihr Vater unter hielten sich gerade: „Ihr müsst doch wirklich nicht helfen. Ihr seid unsere Gäste.“ Doch Evas Vater erwiderte: „Wir helfen gerne. Ich weiß ja, dass wir gar nicht eingeplant waren und trotzdem habt ihr euch solche Mühen gemacht und uns so toll beherbergt.“ Daraufhin lenkte Friedemann ein, weil ihm wieder einmal bewusst wurde, wie störrisch doch sein alter Freund war. Er sagte also: „Na gut, wenn ihr schon helfen wollt, dann wäre es eine große Hilfe, wenn ihr mir draußen ein bisschen helfen könntet. Folgt mir einfach.“ So folgten Eva und ihr Vater ihrem Gastgeber nach draußen und von dort auf die Wiese. Als sie auf der Wiese ankamen, war die Sonne richtig aufgegangen und tauchte das Dorf in ein morgendliches Licht. Wehmütig dachte Eva an ihr Bett und war auf einmal sehr froh, dass ihr Vater kein Bauer war und sie nicht jeden Morgen so früh aufstehen musste. Auf dem Weg zu der Wiese nahm er einige Eimer und drei dreibeinige Hocker mit, die er Schemel nannte. Auf der Wiese angekommen, ging er zu einer Kuh und setzte sich auf den Schemel, den er direkt neben der Kuh aufstellte. Er griff an den Euter einer Kuh und zeigte Eva, wie man eine Kuh richtig melkt. Er ließ sie es einmal probieren und als es nach einigen Versuchen klappte, lobte er sie, dass sie es viel schneller hinbekommen hätte als ihr Vater damals. Daraufhin verteilten sie sich auf der Wiese und fingen an, die Kühe zu melken. Evas Eimer füllte sich rasch und sie war stolz, als sie schneller als ihr Vater einen vollen Eimer mit Milch zu den beiden anderen stellen konnte, die Friedemann schon geschafft hatte. Als sie mit dem Melken aller Kühe fertig waren, brachten sie die Eimer in den Keller des Hauses und der Bauer erklärte, dass sie die Milch am nächsten Tag auf dem Markt verkaufen würden. Als Nächstes gingen sie auf ein Feld, das hinter dem Haus lag, wo ihnen Friedemann zeigte, wie man Steckrüben zog. Eva hatte schnell den Dreh raus und hatte schnell ein Bündel zusammen. Sie brachten die Steckrüben in die Küche und wuschen sie. Danach sagten Friedemann und ihr Vater, dass sie nun genug geholfen hatte und dass sie einmal nach ihrem Bruder schauen sollte.

Tatsächlich fand sie ihren Bruder auf dem Hof, wie er gerade mit einem Stock Sachen in den Boden ritzte. Die Muster, die er malte, waren wie immer verschlungen und sehr komplex und Eva fragte sich, woher ihr Bruder dieses Talent hatte. Sie schlich sich von hinten an und machte sich bereit, ihren Bruder zu erschrecken, aber kurz bevor sie bei ihrem Bruder angekommen war, trat sie auf einen Ast und Johannes drehte sich zu ihr um und grinste sie an. Nachdem er sie entdeckt hatte, lief er auf sie zu und fing an, sich mit ihr zu kabbeln. „Hey“, rief Eva lachend, „was soll das denn?“ „Du warst heute Morgen einfach weg. Ich dachte schon, du wärest entführt worden. Aber dann habe ich durch das Fenster geschaut und gesehen, wie du mit den Kühen gespielt hast. Wieso darf ich nicht mit den Kühen spielen?“, fragte Johannes dann. „Weil“, erwiderte Eva, „du noch zu jung dafür bist. Sei außerdem froh, dass du ausschlafen konntest. Ich bin jetzt hundemüde.“ Dann gähnte sie. Die beiden machten sich auf den Weg zurück zum Hof, um ihn ein bisschen zu erkundigen. Sie kamen an einem Knecht vorbei, der gerade die Schweine fütterte und an einer Magd, die gerade dabei war, Wasser von einem Brunnen zu holen. Hühner flatterten auf, als sie am Hühnerkäfig vorbeigingen und da fiel auf, wie wohlhabend Friedemann sein musste. Die meisten Bauern, die in ihrem Dorf lebten, besaßen vielleicht ein paar Gänse und wenn es hochkam noch eine Handvoll Schweine und ein oder zwei Kühe. Manchmal erzählte ihr Vater, dass viele Bauern, die nördlich der Wiesen von Kändelmar noch immer unfrei lebten und nicht einmal das besaßen, was die ärmeren Bauern in der kurzen Zeit aufgebaut hatten, in der sie schon in der Freiheit lebten, die sie von ihrem Fürsten geschenkt bekommen hatten. Sie wusste, dass es nicht gewöhnlich war, dass man einfach so einen Schweinebraten aß. Gerade als sie dem Gedanken noch weiter nachgehen wollte, rief ihre Mutter ihren und Johannes Namen und winkte sie zu sich rüber. Sie saß mit der Frau des Bauern, die sich als Idina vorstellte, gemeinsam an einem Waschtrog. Sie fragte die beiden Geschwister, was sie heute schon gemacht hatten und erzählte, wie sie schon die ganze Zeit mit Idina Wäsche gewaschen und einige Kleider geflickt hatte. Doch als die Erwachsenen anfingen, sich darüber zu unterhalten, was König Bandels Sieg für die Bauern bedeutete, wurde ihnen langweilig und sie zogen weiter. Sie sahen Friedemann und ihren Vater, wie sie einen Zaun reparierten, indem sie einen Zaunpfahl neu in den Boden trieben. Dann gingen sie ins Haus, um es sich näher anzuschauen. Der Boden war aus Holz hergestellt und die langen Planken knarrten ein wenig unter ihren Füßen. Auf beiden Seiten des geräumigen Flurs waren Türen und teilten die Steinwände in unregelmäßige Abstände ein. Auf der rechten Seite gingen sie an dem großen Wohnzimmer vorbei, in dem sie gestern gegessen hatten und in dem sich Eva nach dem Melken der Kühe eine Portion Haferschleim geholt hatte. Sie gingen an der Tür vorbei, passierten eine Treppe, die in den ersten Stock führte, und kamen schließlich zum Ende des Ganges, wo sie eine Öffnung in der Mauer erwartete, durch die Licht hineinströmte. Auf einmal hörten sie hinter der Tür auf ihrer linken Seite ein lautes Seufzen, gefolgt von einem Gemurmel, dass die beiden kaum verstanden. Leise schlichen sie sich näher an die Tür und lehnten sich gegen die Tür, um besser lauschen zu können. Doch die Tür gab nach und die beiden Geschwister stolperten in den Raum hinein, indem sie eine steinalte Frau erblickten, die so genauso erschrocken anschaute, wie sich Eva fühlte. Doch dann brach die alte Frau in Gelächter aus und sagte: „Ach meine Lieben. Ihr seht ja vollkommen verängstigt aus. Nun ja, das solltet ihr auch sein. Aber nicht meinetwegen.“, woraufhin sie kicherte. Die Stimme der Frau war so raspelnd wie das Geräusch, wenn im Herbst der Sturm durch die Äste jagte und das Gesicht der Frau hatte so viele Furchen, dass es schien, als hätte sie schon mehr Stürme erlebt als alle anderen Mensch auf diesem Hof zusammen. Ihr Haar war ergraut und an manchen Stellen wirkte es schon fast weiß. Doch was am auffälligsten war, war die Farbe ihrer Haut. Während ihre Haare an einigen Stellen weiß war, war ihre Haut so ebenmäßig weiß wie frisch gefallener Schnee, doch auf der rechten Seite prangte eine Brandverletzung, die sich über ihr ganzes Auge erstreckte. Eigentlich fand Eva die alte Frau ziemlich gruselig und wollte nichts als raus, doch schließlich siegte ihre Neugier. Sie setzte sich hin und ihr Bruder setzte sich daneben.

Dann begann die Frau zu erzählen: „Als ich in eurem Alter war, herrschte noch nicht König Bandel über unser Reich. Eigentlich regierte hier nichts als die Angst, denn der schwarze Tod tanzte durch die Straßen, und wer mit ihm tanzte, überlebte das meist nicht. Meine Mutter wurde von dieser Krankheit hinweggerafft und wir konnten sie nicht noch einmal sehen, weil wir uns sonst angesteckt hatten. Niemand traute sich mehr auf die Straßen, denn die Dünste dort konnten einen umbringen. Mütter ließen ihre Kinder zurück, weil sie dachten, dass sie sich anstecken würden, wenn sie ihr Kind noch länger anfassen würden. Und die Menschen… sie sahen wahrlich abscheulich aus. Dunkelviolette, schon fast schwarze Beulen übersäten ihre Körper. Gott hatte uns die Pest geschickt, um uns für unsere Sünden zu strafen. Kein Arzt konnte den Kranken helfen. Ich verlor die Hälfte aller Menschen, die ich damals kannte.“ Sie redete noch weiter, doch als Eva den zutiefst erschrockenen Gesichtsausdruck sah, schritt sie ein: „Danke für die Geschichten, Mütterchen, aber wir sollten jetzt wirklich gehen.“ Sie nahm ihren Bruder an die Hand und zog ihn aus dem Zimmer heraus. Dort fing ihr Bruder zu weinen an und wollte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Erst als sie draußen waren und ihm die Sonne den Spuk austrieb, konnte Eva wieder mit ihm reden. „Hör mal“, sagte sie und fasste ihn sanft an beiden Schultern, „das, was die alte Frau da gerade erzählt hat, ist schon über hundert Jahre her. Sie kann das gar nicht miterlebt haben. Diese Zeit ist längst vorbei. Gott ist uns inzwischen viel wohlgesonnener und dir ist er das sowieso. Du bist ein guter Mensch und er würde dich verschonen. Und für alle Fälle“, sagte sie, nahm ihre selbst gemachte Halskette ab und legte sie Jakob um. „Die wird dich beschützen und dir Glück bringen.“ Johannes trocknete sich die Tränen und fragte: „Wirklich?“ „Wirklich!“, bestätigte Eva.

Daraufhin gingen sahen sie sich noch einmal auf dem Gelände um und entdeckten einige Schleichwege durch den Wald, der an die Besitztümer Friedemanns anknüpfte. Als sie langsam Hunger bekamen, kehrten sie zum Hof zurück. Sie bemerkten, dass tatsächlich schon Essen gekocht wurde und sie halfen beim Zubereiten mit. Zum Abendessen gab es einen Steckrübeneintopf und beim Abendgebet betete Eva dafür, dass ihr Bruder Johannes nicht zu sehr in Angst vor diesen Geschichten leben würde. Nachdem sie fertig gegessen hatten, ging Eva sich schnell fertigmachen und legte sich zu Bett. Heute war ein langer Tag gewesen und sie hoffte, dass sich das am morgigen Tag nicht rächen würde. Kaum hatte sie sich ins Bett gelegt, war sie auch schon eingeschlafen.

 

Tag 3 - Das Amulett

 

Hier findest du jetzt eine Anleitung zur Herstellung eines Amuletts.